Anfang/Ende

Ich sah auf aus der Arbeit, und das muss umbenannt werden, weil es gar kein Aufsehen war, sondern nur das zeitgleiche Drücken der Apfel- und Tabulatortasten, bis das Firefox-Icon markiert war, und Loslassen der Tasten, also gar kein Aufblicken, sondern Weiterstarren, und das Starrzentrum war auf nichts vorbereitet, da sah ich das:

Ich sagte Oh nein, was sich besser sagen als schreiben lässt, weil es geschrieben nicht das ist, was es gesprochen und gefühlt ist, so wie Tränen geschrieben nie das sind, was sie geweint sind, es sei denn man hätte allen Mut gewonnen und alle Freiheit oder hätte im anderen, im schlechten Fall, denen schließlich Glauben geschenkt, die meinen, man nenne etwas nur Kitsch, weil man sich einer Wirkung versperre, sich der eigenen Öffnung in den Weg stelle, also dem eigenen Herzen Schotter vor die Herzensbeine werfe, so dass das Herz behindert werde. Aber diese und jene sind genau genommen innerlich und reden hier schon rein, immerzu muss man achtsam sein. Also sagte ich Oh nein und hatte damit nicht gerechnet, ich hatte einfach nicht damit gerechnet, diese Meldung zu lesen, denn ich hatte nicht mit der Sterblichkeit der CW gerechnet, ich bin mit der Berechnung der Sterblichkeitswahrscheinlichkeit anderer Leute beschäftigt oder rechne vielleicht gar nicht, sondern gehe von einer bestimmten Sterbensreihenfolge aus, ganz unwillkürlich oder manisch im anderen Fall. Es gibt die Todesfälle, mit denen zu rechnen ist, und es gibt die Todesfälle, die immerzu befürchtet sind und bleiben.

Ich machte ein Bildschirmfoto und hatte zuvor nicht CW gelesen, sondern Katja Kullmann, den Anfang von Echtleben: „Ich bin eine von den Leuten, die ständig Fotos machen. Meine Digitalkamera hat einmal 89,90 gekostet, hat ein schwarzes Gehäuse, ein paar Funktionen, die ich nicht verstehe, und einen Pixel-Grad, den ich immer wieder vergesse, denn er ist mir völlig gleichgültig. […] Wann immer ich glaube, einen Fetzen Wirklichkeit vor Augen zu haben, der mir etwas sagt, drücke ich ab – damit ich die Unübersichtlichkeit der Dinge wieder einmal sehen kann.“

Bevor ich das Bildschirmfoto machte, wählte ich den Bildbereich aus. Ich wollte das Foto, die Meldung nicht beschneiden, also tat ich es nicht, und so kam der Peinliche Iran-Patzer mit ins Bild. Eine Eilmeldung, der Tod von CW, darunter eine andere Meldung und daneben etc. Ich rief faz.net auf und machte ein Bildschirmfoto, das mir besser gefiel.

Das war automatisiertes Handeln, das sind all die Handlungen, die die Arbeit am Rechner mit sich bringt. Meine Assoziationen sind auf dem absteigenden Ast, stattdessen gerät mir das Denken zu einer Reihe von durch Links verknüpften Vorgängen, denen immer eine klickende Hand die Richtung weist. Und die Suche in der echten Welt, in der Wohnung, in der Tasche ist eingeleitet durch das Denken der Tastenkombination Apfel und F, und ich stehe in der Wohnung kurz ratlos herum, weil die Wohnung eben kein Rechner ist und meine Ordnung keine ist, jedoch allmählich eine wird.

Jedenfalls ist CW tot und gerade erst ist Kittler gestorben, also dorthin gegangen, wo die Meisten sind, wie es im Nachruf der FAZ stand, also ist auch CW dort, wo die Meisten sind, was tröstlich sein könnte.

Ich denke an den Freund von A, der einen Stapel antiquarischer Kindheitsmuster nach einer Lesung aus einem bedeutend neueren Buch vor Christa Wolf legte und sie bat, alle Bücher für seine Freunde zu signieren. CW musste den Namen des jeweiligen Freundes schreiben und ihre Unterschrift und das Datum und bekam darüber nicht die beste Laune, aber natürlich bekommt man gute Laune, wenn man denkt, wie ein großer Stapel Kindheitsmuster zu ihr getragen wird und zur Signatur überreicht und nachher verschenkt mit Signatur und gelesen etc.

Und ich dachte an ihre Geschichte „Unter den Linden“, aus der ich erst vor ein paar Tagen einen Satz für einen meiner Texte abgeschrieben hatte: „Mir war nicht ganz geheuer, als ich meinen Weg wieder aufnahm. Immer hatte ich geahnt, daß diese Straße in die Tiefe führt. Ich brauchte nur rechterhand durch das schmiedeeiserne Tor in den Innenhof der Staatsbibliothek einzutreten, den ich übrigens nicht erkannte. Aber es verlangte auch niemand von mir, daß ich mich erinnerte. Ich hatte nur weiterzugehen, auf den grünblau gekachelten Brunnen zu, hatte seinen Rand zu übersteigen und unterzutauchen. Man macht sich übertriebene Vorstellungen davon: Es ist einfach, man muß es sich nur oft genug und dringlich gewünscht haben.“ Diese Geschichte, in der es heißt: „Nicht mehr bin ich an die Tatsachen gekettet. Ich kann frei die Wahrheit sagen.“

Ich mag, was sie sah, und dass sie versuchte zu sehen, was sie alles nicht sehen konnte und immerzu sah und wusste, dass sie manches nicht sah.

Ich denke an den Text „Blickwechsel“, in welchem sie als junges Mädchen flach auf einem Feld lag und mutig war und so in Angst, dass alle Angst verbraucht war und höchste Gegenwart entstand; sie blickte dem feindlichen Flieger ins Gesicht und sah den Feind ganz deutlich, und es geht wirklich immer um das Sehen. Man muss alles sehen, aber kann nicht alles sehen und weiß dann auch wieder nicht, was man sieht, muss sich jedoch entscheiden, wogegen Getrude Stein, die ja auch bei den Meisten ist, Einspruch erheben würde, aber zugleich sich selbst widersprechen müsste, da sie sich zu jeder Zeit meisterhaft entschied und nur vor sich den Eindruck erwecken konnte, sie habe sich keinen Deut entschieden.

Und ich denke an CWs Text über einen Tag im Oktober und an die Frage: wie viele Taschen hat ein Tag. Dieser von ihr beschriebene hatte viele, unglaublich viele. Ich nahm ihre Geschichte für bare Münze, fast jede ihrer Geschichten, jedes ihrer Bücher für bare Münze, und ich versuchte und versuche, solche Tage auch hinzubekommen, aber mir ist ein Arztbesuch mit Kind am Tag schon genug, da sind dann die Taschen des Tages schon gut gefüllt und es lässt sich nicht mehr viel Welt in sie stopfen. Meine Taschen sind manchmal so klein. Sie hatte beneidenswert große Taschen, und natürlich lese ich sie, um meine Taschen zu dehnen, denn ich lese nicht zum Spaß.

Es ist wie Flusser es sagt: „Wir sind alle Scheiterer, und zwar deshalb, weil wir wissen, dass wir sterben werden. Aber nicht unser eigener Tod ist der Grund unseres Scheiterns, sondern der Tod aller jener, die wir lieben und mit denen wir in Freundschaft verbunden sind.“

Und es geht immer so weiter, die Leute sterben und sterben, und es liegt viel Trost im Leben und Lesen.

 

 

 

 


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert