Arbeit Der Tod und sein Rädchen Dinge Vom Verlassen der Welt Was jetzt kommt

Smile, though your heart is aching

smile

Ich arbeite zuhause, was alle Paketboten wissen, weshalb sie, wenn sie Pakete für die Nachbarschaft haben, bei mir klingeln. Ich laufe ihnen die Treppen entgegen, damit sie die Stufen bis zu mir im zweiten Stock nicht gehen müssen. Ich sehe da nicht nur meine Stufen, sondern sehe meine Stufen als Teil aller Stufen, die sie an einem Tag nehmen müssen. Nicht alle Leute sind so nett und schnell wie ich, manche wohnen im sechsten Stock und kommen nicht auf die Idee (und nicht etwa, weil sie krank, zu alt wären) dem Paketboten auch nur eine halbe Treppe entgegenzugehen.

Vorgestern kam der Hermes-Bote, in keiner Weise dem Gott Hermes gleichend: ein dicklicher, älterer Mann, dessen türkis-graue Uniform viel zu eng sitzt und mal wieder gewaschen werden könnte. Er bringt ein Paket für die Nachbarin, ein Paket von Amazon, was ich sofort am Pfeil, am Lächeln auf der Packung, am lächelnden Pfeil erkenne. Ihm selbst war nicht nach lächeln zumute, er sagte, er habe heute schon vier große Möbelpakete in den sechsten Stock schleppen dürfen, hin zu einem jungen Mann, der nicht ein bisschen mit angefasst hatte, sondern ungeduldig wartend in der Tür stand. Ich nahm das Paket entgegen, legte es in meiner Wohnung ab und betrachtete den lächelnden Pfeil, so wie ich ihn immer betrachte: ein wenig kritisch von der Seite oder wie in ihn hinein zoomend.

Ich weiß ja nicht, wie es bei Ihnen ist, aber ich sympathisiere leicht, und meine Spiegelneuronen sind sehr intakt. Ich lächele, wenn ich angelächelt werde. Etwas in mir lächelt, wenn Diktatoren lächeln. Etwas in mir erwidert auch das Lächeln von Pappkartons. Es ist aussichtslos, ich habe mich nicht im Griff. Ich lächele unsichtbar, aber ich lächele, wenngleich ich kein Interesse daran habe, von einer Pappverpackung zum Lächeln gebracht zu werden.

Ich stehe also im Flur, wo das Paket für die Nachbarin liegt und starre es an. Ich fasse es in den Blick, wann immer ich daran vorbeigehe. Ich glaube, ich bin darauf aus, das Lächeln in jenem Moment zu erwischen, in dem es nachlässt, in dem es sich lockert, in dem es seine Muskeln entspannt und sagt: Okay, erwischt, ich lächele natürlich nicht die ganze Zeit. Wie sollte das auch gehen? Ich möchte durchaus, dass niemand in meiner Gegenwart lächeln muss oder sich professionell geben. Das gilt auch für Verpackungen, für Logos, für lächelnde Logos zumindest, die versuchen, mir, indem sie mein Gesicht und dessen Ausdrucksmöglichkeiten nachahmen, nahzukommen. Ich starre auf das Lächeln, als versuchte ich, den Karton zu durchdringen, zu erspüren, wie es ihm geht. Ich tue das eher versehentlich als absichtlich. Ich schaue in etwa so, wie ich meinen großen Sohn anschaue, wenn er sagt, dass alles in Ordnung sei, ich aber sehe und spüre, dass das nicht stimmt. Ich lauere ein bisschen, dränge ihn aber nicht, mir sofort zu erzählen, was ihn beschäftigt.

Auch der Karton mit dem Lächeln verrät mir nicht, wie es ihm geht.

Das Lächeln ist ein Pfeil von A nach B, aber A und B meinen keine konkreten Ziele, es geht hier um das schiere In-Bewegung-Sein von irgendwo nach irgendwo, der Weg ist das Ziel, nur anders, das ist ja kein weise lächelnder Pfeil. Es ist ein eingefrorenes Lächeln, ein ikonisch gewordenes Symbol, der Nike-Swoosh plus Service-Grinsen. Das Lächeln ist überall. Ich sehe es aus Altpapiertonnen ragen, Leute tragen es von der Post nach Hause oder tragen es zurück zur Post, wenn sie ein Produkt umtauschen. Es fährt als Teil einer großen Werbefläche auf der städtischen Straßenbahn herum, es lächelt auf zur Wiederverwendung aufbewahrten Umschlägen in meinem Regal. Es zeigt sich auf ca. einem Drittel der Pakete, die im Wagen des DHL-Kuriers liegen, der meinen Namen kennt, dessen Namen ich nicht kenne. Ich weiß jedoch, dass er seit kurzem einen Hund hat und den letzten Sommerurlaub mit Frau und Hund in einem Haus am Balaton in Ungarn verbracht hat. Ich schaue im Vorbeigehen in seinen Lieferwagen, wir grüßen uns, ich frage, was er von diesen lächelnden Paketen hält. Er steht rauchend im Inneren, diese Zigarette ist sein Frühstück, sein Mittag, sein Gespräch mit einem Kollegen. Keine Ahnung, sagt er auf meine Frage. Er zuckt mit den Schultern. Die müssen halt ausgeliefert werden. Und die hier, er zeigt auf die lächelnden Pakete mit Aufdruck Prio, müssen heute noch raus. Lange, sagt er, mache er diesen Job nicht mehr. Ich nicke. Aber was machen Sie dann? Er zuckt wieder mit den Schultern. Mir was Besseres suchen. Er sagt, man wolle bei DHL demnächst für fairere Arbeitsbedingungen streiken. Ich sage: Ich bin sehr dafür. Ich sage auch, er könne sich jederzeit Protestliteratur bei mir ausleihen. Eine nicht geringe Menge der Protestliteratur, die sich in meinem Regal befindet, hat er mir gebracht, hat mir die Bücher in einem lächelnden Umschlag übergeben. Spätestens das ist der Moment in diesem Text, in dem Alanis Morrissette „Isn‘t it ironic, don‘t you think“, singen sollte. „A little too ironic. Yeah, I really do think.“

Ach, dieses Lächeln. Es lässt mich an Personen denken, die zwanghaft lächeln, egal, was man ihnen erzählt: sie lächeln, sie lenken vom Thema ab, lächeln über etwas hinweg; verwundete, hoch nervöse Geschöpfe. Oder Personen, die eiskalt über etwas hinweglächeln, die ihrer eigenen Agenda folgen und das Lächeln nur den Spiegelneuronen ihrer Betrachter*innen liefern, während sie Dinge verhandeln und umsetzen, die niemanden lächeln lassen würden. All diese lächelnden Verpackungen suggerieren gute Laune und gute Nachrichten um jeden Preis. Oder all diese lächelnden Verpackungen haben soeben einen Witz erzählt und warten lächelnd darauf, dass man lautstark mit ihnen lacht. Das Lächeln, dieses Lächeln der Verpackungen, kommt mir wie emotionales Photobombing vor. Egal, wie es mir oder irgendwem geht, egal, wie groß die Katastrophe ist, egal, wie neutral ein Moment: Ein Lächeln war zugegen. Wie konnte das denn passieren?

Dieses Lächeln macht mich fertig. Dieses permanente Lächeln macht einen Teil von mir fertig, ich verstehe wirklich nicht, wie das Lächeln einfach nicht vergehen kann. Genau genommen weigere ich mich, das Lächeln eine stehenden Wendung, ein Symbol, ein Markenzeichen etc. sein zu lassen. Ich habe irgendwann einfach angefangen, das Lächeln zu sehen, es persönlich zu nehmen, es zu beleben, mich anlächeln zu lassen und seitdem misstraue ich dem Lächeln zutiefst.

Vor kurzem habe ich begonnen, die Verpackungen umzudrehen. Ich habe versucht, das Symbol aufzulösen, das Symbol zu verwandeln. Es dauerte eine Weile. Immerzu sah ich das Lächeln. Dieses Lächeln ließ sich nicht davon irritieren, auf den Kopf gedreht worden zu sein. Jeder Smiley ändert seine Stimmung bereitwilliger. Es brauchte eine Weile. Ich musste dieses Lächeln wieder verlernen. Ab und an halfen meine Kinder, malten ein oder zwei Augen über den nach unten gezogenen Pfeilmund. Ein Pfeil übrigens, der dann von B nach A führt. Und ja, aus dem Lächeln, diesem ikonischen Lächeln, das anfangs unverkennbar wie die Mona Lisa auch verkehrt herum ein Lächeln blieb, wurde ein säuerlich verzogener Mund, und der Pfeil ist nun eine Bewegung zurück in der Zeit.

Ein guter Freund übrigens hat ähnliche Probleme mit dem Lächeln wie ich. Er arbeitet nebenbei und meistens nachts bei DHL und sieht dort Nacht für Nacht Tausende der lächelnden Pakete. Er hat es sich zur Gewohnheit gemacht, diese Pakete so auf das Förderband zu legen, dass sie an der nächsten Station nicht lächelnd, sondern verkehrt herum ankommen. Er und ich lachen wahnsinnig gern, aber dieses ignorante Lächeln reibt uns auf, wir wollen diese Fußnote, diesen Kommentar, diesen lächelnden Subtext nicht. Wir lächeln selber, wenn wir wollen.

Beitrag, der in veränderter Form in The Believer erscheinen wird.

Allgemein Alltag Was jetzt kommt

Gendersternchen, you are the star tonight and tomorrow und sowieso

your light eclipsed the moon tonight

Ich habe immer den größten Respekt vorm Unterrichten, tatsächlich und ganz ehrlich sogar Angst. Ich fürchte zu scheitern, vor aller Augen, was in der Regel nicht geschieht. Zu unterrichten ist mir die beste Lehre und auch eine große Bereicherung, ich bin immer wieder begeistert von den Texten, die ich zu hören und zu lesen bekomme; die Welt ist voller Talent und Potenzial. Nicht nur der Teil der Welt, in dem ich unterrichtend unterwegs bin. Einen der schönsten Momente beim Unterrichten habe ich vor ca. zwei Jahren an der Burg Giebichenstein in Halle erlebt, und er hatte nichts mit meinem Unterricht zu tun. Eine Studentin, die oft nicht da war, aber die nachvollziehbarsten Gründe hatte, oft nicht da zu sein, erzählte etwas oder las etwas vor, ich weiß das nicht mehr. Sie benutzte jedenfalls im Reden den Gendergap. Es war das erste Mal, das ich das so hörte, was vielleicht etwas beschämend ist, aber es war eben so. Gelesen hatte ich Gap und Sternchen tausendfach, aber nie gehört. Und dieses Hören bewegte mich tief. Das Innehalten im Reden, die kleine Pause. Das ist nicht die Lücke, die der Teufel lässt, das ist ein Raum für alle, das ist ein Konzept der wirklich offenen Tür. Prinzip: Hereinspaziert. Hier ist Platz. Hier bist du Mensch, hier darfst du sein.
Ich liebe das. Ich liebe diese Einladung, die sich sprachlich frappierend unkompliziert umsetzen lässt, die Einladung, in der Sprache vorhanden zu sein, sich angesprochen, mitgemeint zu fühlen. Es ist so leicht. Es ist so leicht, das zu sagen, zu schreiben, zu lesen, zu hören. Es ist so leicht. Und immer geht mir das Herz auf, wenn ich Artikel lese, in denen so viel wie möglich Leute bedacht werden.

Also noch einmal: Es ist so leicht, Leute nicht auszuschließen. Es ist so ungeheuer leicht, sehr viele Leute nicht auszuschließen.

Und ich merke, ich werde an manchen Tagen verrückt, wenn es sich ein Mensch, eine Publikation, eine Institution zu leicht macht. Wenn aus der Verweigerung, Sternchen oder Gap, geschweige denn das Binnen-I oder männliche und weibliche Form zu benutzen, eine Haltung spricht, die sagt: Eure Anliegen interessieren mich nicht. Ihr interessiert mich nicht. Du interessierst mich nicht. Wenn der Wunsch nach dem Stattfinden in Sprache, nach dem Gesehenwerdenkönnen in Texten als Spezialproblem, als Marotte, als mimosenhaftes Begehr, als Überflüssigkeit, als was weiß ich noch betrachtet wird.

Das geht nicht. Und noch einmal, weil es einfach das beste Lied ist, und der beste Ausdruck von überwundenem Ignoranten-Jetzt: Hört Was jetzt kommt von Christiane Rösinger. Was jetzt kommt sagt, was jetzt kommen muss.

Arbeit Voraussetzungen des Erfolgs Was jetzt kommt

Von Arbeit, Zäunen und Patriarchen

I’ve come to talk with you again

[zuerst veröffentlicht in metamorphosen zum Thema Arbeit]

5. Juni 2017

1. Ich werde mein Lebtag nicht so viel und so kontinuierlich arbeiten wie meine Eltern (Der Chor tritt auf, schlurft ein bisschen, wollte eigentlich erst später kommen und sagt: Wenn wir uns da mal nicht täuschen, wir täuschen uns doch alle Nase lang.), aber ich habe beispielsweise am Anfang des Jahres sehr viel gearbeitet, als ich I Had Nowhere to Go von Jonas Mekas übersetzte: ein recht dickes Buch, ca. 460 Buchseiten, und ich hatte nicht viel Zeit dafür, nur acht Wochen für Roh- und Reinfassung, dazu ab und an kranke Kinder oder gesunde Kinder, das reicht ja auch schon, Kinder per se sind ein Widerspruch zur Arbeit, zu dieser Sorte termingebundener Arbeit etc. Jedenfalls arbeitete ich die ganze Zeit und verpasste hier in Rom, wo ich gerade bin, die tollsten Dinge, aber ich war in diesem Buch, das war gut, und ich war mit diesem Buch mehr in Europa, als ich es zuvor gewesen war. Obwohl das Buch aus den Jahren von 1944 bis 1955 berichtet, ist es gegenwärtig. Ich habe mir beim Übersetzen tatsächlich die Finger und die Augen wundgearbeitet und keine nennenswerte Pause gehabt. Aber es war in Ordnung, weil mir das Buch einen Ort gab (Europa) und einen Weg von einem Tag zum nächsten. Weil das Buch mir auch Worte gab, denn wie Mekas über sein Leben, seine Flucht, seine Zeit im Zwangsarbeitslager etc. berichtete, vor allem aber auch, was er über seine Vorstellungen von Arbeit, seine Einstellung zu Lohnarbeit schrieb, das tat mir gut, das half mir auch, meine Welt zu richten: Projekte/Netzwerke/Konkurrenz, der ganze Aufwand, den man für seinen Anteil am Kuchen betreiben muss oder meint treiben zu müssen. Hochaktive Apparate, wo sind denn die faulen Leute hin? Es ist doch, wenn man nicht aufpasst, so: Eine*r aus einer Runde steht auf und alle schauen neugierig hinterher, weil sie/er was gefunden haben könnte, was für die Arbeit aller wichtig sein könnte oder wenigstens von Interesse. Liegt da, wo er/sie hingeht, vielleicht ein Standortvorteil rum? Hat da wer aus Versehen einen guten Kontakt verloren, den gleich der Wind wegpustet, in die Hände vom irgendwem, den/die man noch nie leiden konnte, der/die trotz Dummheit und Oberflächlichkeit einen erstaunlichen Erfolg hat? Alle liegen wie Tiger auf der Lauer, das ist Arbeit, und ich will nicht auf der Lauer liegen, ich will also lieber an einem Ort sein, wo man alles vergisst, und die Frage ist nur, ob und wie lange ich mir das leisten kann oder wie ich erfolgreich imitieren kann, mir das leisten zu können. (Der Chor sagt: Probier‘ es morgen anders, probier‘ es doch einmal. Der Chor möchte, glaube ich, gern ein Chor in einem Musical sein, aber, tut mir leid, das ist jetzt erst mal nur Fließtext. Der Chor kann sich natürlich selber sein Libretto und seinen Auftritt basteln.) Was ich also sagen wollte, ist, dass ich vor mich hinarbeitete, draußen wurde es langsam wärmer, und ich vermisste es, in Rom unterwegs sein zu können, denn tatsächlich ging nur Arbeit und Familienalltag, nichts extra war möglich, aber es war in Ordnung, wie gesagt. Es war bis zu jenem Satz in Ordnung, in dem Mekas erzählte, wie er auf der Suche nach einer Menschenseele zum Reden in Ginkus Süßwarenladen ging, dort aber nur auf „zwei oder drei Frauen“ traf, die Geschenkpapier kauften. Ich übersetzte den Satz, dann ging ich empört und fast weinend in die Küche. Ich sagte meinem Mann und Hannes, der gerade zu Besuch war: Jetzt ist es passiert, jetzt ist aus etwas Schönem, Interessantem, zwar Anstrengendem, aber mich sehr Bereicherndem schnöde Arbeit geworden. Jetzt ist es passiert. Nach einer Weile ging ich wütend und gekränkt zum Schreibtisch zurück und arbeitete weiter. Wie kann einer nicht wissen, ob er zwei oder drei Frauen sieht? Ich stellte mich in Ginkus Süßwarenladen und ließ mich von Mekas übersehen. Ich war die vielleicht anwesende Frau, die vielleicht anwesende Übersetzerin, die unter massivem Zeitdruck arbeitete, weil sie sich entschieden hatte, professionell zu sein und mit der Übersetzung erst dann zu beginnen, wenn der Vertrag da war, und der war recht spät fertig geworden. Ich war also vielleicht da, aber vielleicht auch nicht. Ich schaute alle Zeit auf den Bücherstapel rechts neben mir, diesen Stapel aus von Frauen verfassten Büchern: Chris Kraus, Helga M. Novak, Kate Zambreno, Frigga Haug, Eva Meyer, Lynne Tillman, Anne Boyer, Hannah Ahrendt; das sind alles Freundinnen. Und ich vermisste alle meine Freundinnen, und ich vermisste das Lesen und das Liegen, aber kaum schreibe ich sowas, denke ich, das kann man ja schon gar nicht mehr sagen, und es ist ganz klar, dass die sinnvollste Arbeit jene wäre, die die Politik in ihrer Eigenschaft bezwänge, alles so übel werden zu lassen, dass aus dem Mittelmeer ein Grab wird, aus Ländergrenzen Messer, die Lebensfäden durchtrennen. (Der Chor sagt: Ins Off gesetzte Leben aus dem Dunklen ziehn. Und alles Tote ins Leben zurück. Tja, sage ich, ja. Die einzig vernünftige Arbeit, eine Arbeit, die ich mir Pi mal Daumen zehn Stunden pro Woche leisten kann. Oder wie ist es? Der Chor sagt: Wir schlagen nach, wir rechnen lieber großzügiger, denn wie soll es sonst etwas werden.) Also all die von so vielen verschwendete Traumarbeit, und all die verschwendeten guten Pläne und all die Körper, die ihr Ziel nicht erreichen und warten müssen; was keine*r kann, der/die dafür nicht bezahlt wird.

(Der Chor gähnt, der Chor ist ein Chor des Überdrusses, der schließlich sagt: Nichts können wir mehr machen, ohne daran denken zu müssen, wie schlecht es anderen geht. Wir fordern eine Politik, die Genuss möglich macht. Einen Genuss, dessen Voraussetzung nicht Ignoranz für das Leid anderer ist. Wir wollen eine Politik, die das Leid abschafft, nicht mehrt. Wissend und mit offenen Augen schauend wollen wir genießen können. Wir sind zum Vergnügen hier. Der Chor steht stumm. Dann gähnt er wieder, spricht nochmals seinen Text.)
Alles muss man dreimal, tausendmal sagen, das ist Arbeit.

Und immer findet sich jemand, um das Arbeiten zu verteidigen, nur weil er/sie schon einmal Arbeit verrichtet hat.

Mekas jedenfalls hat mir eine Menge Arbeit beschert, indem er sich nicht genau erinnerte oder nicht genau schreiben wollte oder indem er schon beim Betreten des Ladens nicht bereit war, zu sehen, wie viele Frauen da nun eigentlich standen.

2. Ich weiß nicht mehr genau, was mir die Texte von Marguerite Duras bedeuten, ich mag jedenfalls sehr, dass sie, während sie am Vize-Konsul arbeitete, eine Menge vergaß, teilweise nicht einmal mehr gute Freunde oder Bekannte erkannte. Später aber, als das Buch fertig war, erkannte sie alle wieder. Was für ein Wagnis, solch eine Schreibweise, die alles aufs Spiel setzt! Da begibt sich eine in Gefahr, da setzt eine ihr Gedächtnis aufs Spiel. Da wirkt eine dement oder unfreundlich, aber da folgt eine ganz dem Text, den sie schreiben muss. Manche Texte wissen gut zu nehmen, was sie brauchen. Sie zu schreiben erfordert alles, Wagemut, zum Beispiel. Sie zu schreiben frisst Hirn oder Körper, aber das sind reversible Prozesse, vorausgesetzt, man hat keine Angst. Das sind Texte, die sich mit dem Alltag nicht vertragen, man geht ja aus der Welt. Und ich frage mich immer: Wie viel Geld benötigt man, um eine solche Vergesslichkeit, einen solchen inneren Orts- und Koordinatenwechsel vollziehen zu können oder zulassen zu können? Eine Menge, vermutlich. Oder ich täusche mich und denke ganz umsonst immerzu an Geld. Je älter ich werde, desto weniger Lust habe ich auf Arbeit. Und Arbeit ist übrigens nie einfach nur das, was anstrengend ist oder mich vom Nichtstun abhält. Arbeit ist das, was ich gegen mein Interesse, gegen meinen tiefsten Wunsch, gegen meine Überzeugung tun muss. Beispielsweise. Im ungünstigsten Fall ist es Teil meiner Arbeit, eine Welt am Laufen zu halten, gegen die ich bin. Weshalb ich die Finger unbedingt von der Arbeit lassen möchte.

(Der Chor sagt, der Chor singt: Das verkennen ja alle, dieses Schuften an der Arbeit vorbei, wie alle was tun, an der Arbeit vorbei und sich arbeitend erschöpfen, an der Arbeit vorbei. Der Chor gähnt: They call it work, we call it… we call it… we call it. Der Chor sagt: Wir wissen es nicht, aber wir freuen uns leider immer, wenn jemand in die Falle tappt, in die wir vorher tappten. Wie eng es in der Falle ist, wie warm es in der Falle ist. Die Falle ist der Wärmespeicher dieser Welt. Ein Wärmestrom wird aus der Falle fließen und sich dem Kältestrom entgegensetzen. Der Chor setzt sich und gähnt: Es ist Zeit, ein bisschen zu schlafen. Das ist eine Frühjahrsmüdigkeit, die schon Jahre währt, meine Güte, so ausdauernd, wie unser Schlafbedürfnis möchten wir auch mal sein.)

Ich habe vergessen, was Arbeit ist/ich weiß zu gut, was Arbeit ist. Mir tut alles weh, sobald ich zu arbeiten beginne, sobald sich etwas wie Arbeit anfühlt. Das Arbeitsmärchen, das geht immer böse aus.

3. Aber jedenfalls wollte ich einen Text schreiben für irgendwen, und ich war sehr guter Dinge, aber dann stand jemand vor meinem Fenster und erzählte eine Geschichte, vielmehr erwähnte jemand Tom Sawyer und diese kleine, berühmte Anekdote vom Anfang des Buches, in der Tom Sawyer den Zaun streichen muss. Das ist seine Strafarbeit, und es ist Samstag. Tom streicht und leidet, bis ihm einfällt, dass er anders von den Umständen erzählen kann. Also sagt er denen, die ihn etwas überheblich bemitleiden wollen, dass nicht jeder streichen könne, dass nur er das so gut beherrsche, dass es eine wirklich wichtige Aufgabe sei etc., woraufhin andere ihn mit Äpfeln und Murmeln und anderen Dingen bezahlen, um ebenso den Zaun streichen zu dürfen. Diese Anekdote wurde vor meinem Fenster erzählt, um zu illustrieren, wie der die Anekdote erzählende Direktor eines Künstlerhauses zu arbeiten habe. (Smart Leadership oder Wie man andere seinen Zaun streichen lässt. Führungsqualitäten aus der Weltliteratur. Oder was hörte ich da?) Ein Direktor müsse also wie Tom Sawyer sein, und es müsse ihm gelingen, die Künstler*innen den Zaun streichen zu lassen, den eigentlich er streichen muss. Ich habe mir das alles angehört, weil es nun einmal zu hören war. Und die Sache ist nun die: 1. Ich bin Tom Sawyer, singe Christiane Rösingers „Was jetzt kommt“ und lasse die Bosse, die Direktoren, die Könige und Prinzen, die Oberbefehlshaber einen Zaun streichen. Es ist ein Zaun, den sie gern streichen, sie reißen sich darum. Sie sind über Jahre, Jahrzehnte beschäftigt. Sie sind aus dem Rennen. Die Bahn ist frei. 2. Ich bin Tom Sawyer oder bin nicht Tom Sawyer, ich habe einen Stapel Bücher dabei, in denen ich, als wer auch immer, gesehen und respektiert werde. Niemand hat mich bestraft, wer hätte denn das Recht dazu. Insofern ich einen Zaun streiche, streiche ich ihn freiwillig. Sollte mir das Streichen kein Vergnügen bereiten, bitte ich Leute um Hilfe oder streiche eben nicht. Und übrigens kann der Zaun ja auch weg.

4. Ich schreibe sehr gern Entschuldigungen oder Absagen. Wer eine Absage oder Entschuldigung haben möchte, kann sich gern bei mir melden. Sie gelten, wenn man an sie glaubt. Einfachster Trick. Nächstes Ziel: Moralisch einwandfreie Entmachtungsschreiben, rundum überzeugend.

5. Work in progress. Lavori in corso. (Der Chor singt ein Lied, welches ist es denn? Irgendwas. Der Chor singt ein paar Zeilen voll, ich kann das nicht mehr gut hören. Ich gehe joggen oder spazieren oder zu meiner Nachbarin Nina J.)

6. Ich habe mein Leben lang auf diesen Text hingearbeitet.

Und er geht so:

*

 

 

Alltag Dinge

Now that you’re gone, alte Waschmaschine

 

Das Hängen an den Dingen, das in diesem Fall mich überraschende Hängen an einem großen Ding, die Beziehung zu einer Waschmaschine, die mir unbewusste Beziehung zu meiner alten Waschmaschine, die an einem irgendwie üblen Tag, der mich wie alle damaligen Tage in Halle fast hätte verrückt werden lassen, gekaufte Waschmaschine: die billigste, die kleinste, die durch die schranktürbreite Tür ins Bad passte, die jahrelang alles wusch (Singlewäsche, dann Paarwäsche, dann Familienwäsche) und von einem der zwei Monteure, die sie brauchte, gelobt wurde, was mich auf seltsame Art stolz machte (sie sei erstaunlich gut in Schuss für ihr Alter), wusch plötzlich nicht mehr. Weil ich noch etwas Erspartes hatte, fuhr ich an einem der letzen Freitage fast freudvoll in die Innenstadt und bestellte eine neue Waschmaschine: eine größere, eine familiengerechte, eine modernere etc. Die neue konnte, weil beim Hersteller die Logistiksoftware zusammengebrochen war, etliche Tage nicht geliefert werden, so dass die Wäscheberge im Badezimmer wuchsen und ich die Wäsche in der Badewanne wusch, die wichtigsten Teile zumindest. Ich schaltete die alte Waschmaschine dann doch noch einmal an, sprach ihr zu und ging aus dem Raum, damit sie in der Ruhe des dunklen Badezimmers sich aufraffen, sich entscheiden könnte zu waschen und über die Kränkung durch meine schnelle Bestellung hinwegzusehen, diese wegzuwaschen oder was auch immer. Aber es geschah nichts, sie wusch nicht. Der kleine Sohn umarmte die Waschmaschine, weinte und sagte, sie solle nicht abgeholt werden. Er malte einen Brief, darin sein Name, zwei Tränen, eine tränengroße Waschmaschine oder zwei waschmaschinengroße Tränen. Ich schrieb dazu und weinte dann auch, weil er weinte: Liebe Waschmaschine, vielen Dank, dass Du immer so gut für uns gewaschen hast.
Später stand die neue Waschmaschine im Bad, ich jubilierte und begann den Wäscheberg wegzuwaschen. Der kleine Sohn sagte, die ist viel zu modern. Ich jubilierte immer noch, aber ich dachte auch: ich habe vergessen zu versuchen, die alte Waschmaschine auseinanderzuschrauben und nachzusehen, ob nicht doch nur irgendein Teil irgendwo feststeckte, irgendwas, was leicht hätte behoben werden können. Ich habe mich ganz pragmatisch und kauflustig gegen sie entschieden und bin bei aller Freude über die neue Waschmaschine traurig und empört über meinen Pragmatismus und denke an Walter Benjamins Sätze: „Was wäre, wenn die Dinge sprechen könnten? Was würden sie uns sagen? Oder sprechen sie schon und wir hören sie bloß nicht? Und wer wird sie übersetzen?“  Und ich denke an Thomas Lindenberg, der in einem Vortrag zum Readymade als Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit sagte, er habe sein Handy vor vier Jahren gekauft und seitdem nicht aufgehört, darüber nachzudenken.
Jedes Ding ist die Welt.

 

Arbeit

F (3) at work

F3_atwork

Arbeit

Treffen sich zwei

zu

Buch und Bücherei Lieblingssatz

Wahrheiten / Lutz des Tages

 

Meine Lieblingswahrheit: Nicht jeder Fehler ist besser.

Lieblingssatz Voraussetzungen des Erfolgs

2014: seltsam werden

Lieblingssatz: „Ich bildete den Hochzeitszug“ (Monika Maron: Stille Zeile sechs). Dazu der passende Hinweis: Don’t get bigger, get weirder.

Buch und Bücherei Frau

Nicht nur hauchen, bitte


Jo Lendle im Gespräch mit der FAZ:

„Sie haben sich ein Jahr Auszeit genommen, um sich auf Ihre Rolle als neuer Hanser-Verleger vorzubereiten. Was haben Sie in der Zeit gemacht?

Gelesen, Autoren getroffen, mit den Kollegen im Verlag gesprochen. Und nachgedacht. Darüber, was ein Verlag heutzutage sein kann und was ich bei Hanser tun werde. Das allermeiste in diesem Verlag ist gut und richtig und bewahrenswert, aber an ein paar Schrauben möchte ich drehen.“

Was sind das für Schrauben?

Kleinigkeiten. Als Michael Krüger Hanser-Geschäftsführer wurde, stellte er in einem Interview fest: „Der Verlag ist an seinen höchsten Möglichkeiten angekommen.“ Das gilt heute erst recht. Diese Strahlkraft ist einzigartig, sie gilt es zu bewahren. Aber im aktuellen Frühjahrsprogramm sind von 29 Autoren 27 Männer. Da sollte sich ein Hauch Balance hineinbringen lassen.

Oder, wie hier, eine prägnante Entscheidung: „My reading resolution is to read only books by women“

Buch und Bücherei Der Tod und sein Rädchen

Mit Toten schimpfen

Verärgert, tatsächlich verärgert, und dazu: Ich nehme es persönlich, stelle ich fest, dass Helga M. Novak gestorben ist. Ich glaube, ihr Tod ärgert mich genauso, wie mich zum Beispiel Mahnungen ärgern, deren zugehörige Rechnungen schon lange auf meinem Schreibtisch liegen, die ich einfach aus Unlust oder Ignoranz oder Vergesslichkeit nicht bezahlt habe. Ich ärgere mich wie über etwas, das ich getan habe oder nicht getan habe, obwohl nun gerade und vollkommen offensichtlich das Gegenteil besser gewesen wäre, über etwas, das ich besser weiß. Oder ist das doch der Ärger über den Tod, diesen Besserwisser, der jedem ins Wort springt. Oder ich ärgere mich über die nun Tote persönlich, als würden meines Erachtens andere sterben, aber sie doch nicht. Wirklich, der Tod von Helga M. Novak ist über alle Maßen ärgerlich.